Autor: Jessica Falzoi (Seite 2 von 2)

Überarbeitung im Allgemeinen

 

The first draft of anything is shit.  Ernest Hemingway

Für meine Schüler hört es sich erst einmal entmutigend an, wenn sie mir voller Stolz eine Geschichte überreichen, an der sie viele Stunden gesessen haben, und ich dann sage: „Bravo! Und jetzt machen wir uns an die Arbeit.“ Ich habe im Internet eine Grafik gefunden, die nur 5% eines Erstentwurfs als Gold bezeichnet, sprich, nur so wenig kann so bleiben wie es ist. Aber wenn man bedenkt, dass wir in der Lage sind, aus dem Nichts Gold zu erschaffen, hört sich das schon wieder ganz anders an; wir sind sogar besser als Rumpelstilzchen, das dazu zumindest Stroh brauchte. Die restlichen 95% teilen sich auf in unnötiges Hintergrundwissen, Szenen, die an falscher Stelle stehen, gute Szenen, die aber nicht in die Geschichte passen, ein großer Teil, der ganz gestrichen werden muss und bedeutungslose Charaktere. Ich muss zugeben, dass diese so schön bunt und verspielt aussehende Graphik mich beim ersten Mal auch schockiert hat.

Mittlerweile habe ich begriffen, dass es von der ersten Idee bis zur fertigen Geschichte Jahre dauern kann, und ich sehe den Überarbeitungsprozess als das an, worauf ich besonders stolz bin. Das, was mich zur Schriftstellerin macht. Das, worin ich mich von allen anderen, die schreiben, unterscheiden kann. Das, was mir am Ende am meisten Freude macht, vor allem, wenn eine Stelle besonders schwierig war.

Mittlerweile weiß ich, dass die Überarbeitung genauso kreativ sein kann, ja oft sogar kreativer, wenn sich Kreativität überhaupt messen lässt, als das Schreiben des Erstentwurfs. Und der große Vorteil ist, dass man nicht auf eine Idee warten muss, die hatte man ja bereits, als man nach dem Stift oder was auch immer griff, weil man etwas unbedingt aufschreiben musste. Wenn die Überarbeitung losgeht, habe ich so etwas wie einen Plan, den ich durchgehen kann, fast ein Rezept, mit dem ich überprüfen kann, ob ich an alle Zutaten gedacht habe. Da passiert es selten, dass man ins Stocken gerät oder nicht weiß, wie man weiter schreiben soll. Natürlich gibt es Stellen, an denen wir länger arbeiten müssen, wo uns die Lösung nicht sofort einfällt, aber sobald wir das Problem genauer benennen können, wie beispielsweise der erste Satz oder die Motivation unseres Protagonisten, können wir uns auf diese eine Sache konzentrieren. Das ist etwas ganz anderes als das vage Gefühl, dass die Geschichte in der Gesamtheit nicht so wirklich toll ist.

Zusammenfassend ist also zu sagen: Ja, das Schreiben guter Geschichten ist harte Arbeit, ja, auch ein Roman wird erst zu einem Roman, wenn er zigmal überarbeitet ist, und bleibt ansonsten ein Erstentwurf, ja, es lässt sich bei fast jedem Text Entscheidendes verbessern, sobald man ihn ein halbes Jahr nicht betrachtet hat. Jede meiner Geschichten, veröffentlicht oder nicht, ist nach ein paar Jahren nicht wieder zu erkennen. Jede, außer einer. Ich kann machen, was ich will, sie stimmt so wie sie ist. Fast enttäuscht es mich ein bisschen, bin ich doch der Meinung, dass ich ständig dazulerne. Aber in sehr seltenen Fällen passiert einem solch ein Glückstreffer. Ansonsten gilt: Überarbeiten bis zum Tod.

Eine gute Sache hat das Ganze jedoch: Aus jedem Erstentwurf lässt sich eine Geschichte machen, die berührt und lange nachklingt. Und wenn es manchmal nur ein einziger Satz ist, der am Ende bestehen bleibt. Und es gibt einen weiteren Trost: Jeder gestrichene Satz oder Paragraph ist wichtig gewesen, um die Geschichte dorthin zu bringen, wo sie am Ende ist. Der Leser spürt das Geschriebene hinter den Zeilen. Das Gestrichene ist das, was Ihren Geschichten Tiefe gibt. Und das, was die größte Wirkung auf Ihre Leser hat, weil es direkt ins Unbewusste geht.

Was ist eine gute Geschichte?

Am Anfang meines Studiums habe ich das erste Mal bewusst eine Kurzgeschichte gelesen, Shirley Jacksons „The Lottery“; diese sechs Seiten, erschienen im New Yorker in den fünfziger oder sechziger Jahren (woraufhin die Hälfte der Leser ihr Abo kündigten!), haben mir den Boden unter den Füßen weggerissen und entscheidend dazu beigetragen, dass ich so was auch irgendwann können wollte: Geschichten schreiben, die einem für einen klitzekleinen Moment den Atem rauben, die einen dazu bringen, alles neu zu sehen.

Um gute Kurzgeschichten zu schreiben, hilft das Lesen von Kurzgeschichten; wer der englischen Sprache mächtig ist, dem sei die Anthologie Best American Short Stories ans Herz gelegt, sie erscheint jährlich und ist, wenn es nicht die aktuelle ist, für 0,01 € bei Amazon zu bekommen. Gerade bei den Amerikanern ist diese Form äußerst beliebt und bietet durch die zahlreichen Magazine, die sie herausbringen, eine gute Möglichkeit der ersten Veröffentlichung. Ich rate jedem, bevor er oder sie sich an einen Roman setzt, erst einmal mit dem Schreiben von Kurzgeschichten anzufangen, auch weil diese überschaubarer für das Überarbeiten sind. Zehn, zwanzig Seiten lassen sich schnell mal einem Freund in die Hand drücken, der sich vermutlich sogar geehrt fühlt, wenn Sie ihn um ein Feedback bitten. Für einen Roman werden Sie nicht so leicht Probeleser finden.

Hierzulande herrscht nach wie vor die Haltung, dass man mit dem Talent zum Schreiben geboren sein muss, sprich, ist das Ding einmal aufs Papier gebracht, hat man es nicht mehr nötig, es groß zu bearbeiten. Ein paar Kommafehler, hier und da ein Wort, ein Absatz ausgetauscht, und schon wird die nächste geschrieben. Dass es sich meist nicht um fertige Geschichten handelt, sondern um Erstentwürfe, ist den wenigsten klar. Stephen King bezeichnet diese erste Version als ein Glitzern in der Erde, verursacht von einem Dinosaurierskelett, das wir vorsichtig ausgraben müssen. Erst, wenn es in aller Pracht vollständig vor uns steht, können wir von einer Geschichte sprechen.

Raymond Carver hat seine Geschichten zigmal neu geschrieben, Hemingway bis zu vierzigmal seine Anfänge bearbeitet, meine Geschichten überarbeite ich auch noch, nachdem sie veröffentlicht wurden. Das Schreiben einer Erstfassung ist eine nette, notwendige Spielerei, beim Überarbeiten jedoch ist der wahre der Magier am Werk, der seine Trickkiste perfekt beherrscht und immer auf der Suche ist, sie neu zu füllen. Und wenn das Publikum ihm am Ende glaubt, weiß er, dass hinter all der Magie vor allem harte Arbeit steckt.

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