Was ist eine gute Geschichte?

Am Anfang meines Studiums habe ich das erste Mal bewusst eine Kurzgeschichte gelesen, Shirley Jacksons „The Lottery“; diese sechs Seiten, erschienen im New Yorker in den fünfziger oder sechziger Jahren (woraufhin die Hälfte der Leser ihr Abo kündigten!), haben mir den Boden unter den Füßen weggerissen und entscheidend dazu beigetragen, dass ich so was auch irgendwann können wollte: Geschichten schreiben, die einem für einen klitzekleinen Moment den Atem rauben, die einen dazu bringen, alles neu zu sehen.

Um gute Kurzgeschichten zu schreiben, hilft das Lesen von Kurzgeschichten; wer der englischen Sprache mächtig ist, dem sei die Anthologie Best American Short Stories ans Herz gelegt, sie erscheint jährlich und ist, wenn es nicht die aktuelle ist, für 0,01 € bei Amazon zu bekommen. Gerade bei den Amerikanern ist diese Form äußerst beliebt und bietet durch die zahlreichen Magazine, die sie herausbringen, eine gute Möglichkeit der ersten Veröffentlichung. Ich rate jedem, bevor er oder sie sich an einen Roman setzt, erst einmal mit dem Schreiben von Kurzgeschichten anzufangen, auch weil diese überschaubarer für das Überarbeiten sind. Zehn, zwanzig Seiten lassen sich schnell mal einem Freund in die Hand drücken, der sich vermutlich sogar geehrt fühlt, wenn Sie ihn um ein Feedback bitten. Für einen Roman werden Sie nicht so leicht Probeleser finden.

Hierzulande herrscht nach wie vor die Haltung, dass man mit dem Talent zum Schreiben geboren sein muss, sprich, ist das Ding einmal aufs Papier gebracht, hat man es nicht mehr nötig, es groß zu bearbeiten. Ein paar Kommafehler, hier und da ein Wort, ein Absatz ausgetauscht, und schon wird die nächste geschrieben. Dass es sich meist nicht um fertige Geschichten handelt, sondern um Erstentwürfe, ist den wenigsten klar. Stephen King bezeichnet diese erste Version als ein Glitzern in der Erde, verursacht von einem Dinosaurierskelett, das wir vorsichtig ausgraben müssen. Erst, wenn es in aller Pracht vollständig vor uns steht, können wir von einer Geschichte sprechen.

Raymond Carver hat seine Geschichten zigmal neu geschrieben, Hemingway bis zu vierzigmal seine Anfänge bearbeitet, meine Geschichten überarbeite ich auch noch, nachdem sie veröffentlicht wurden. Das Schreiben einer Erstfassung ist eine nette, notwendige Spielerei, beim Überarbeiten jedoch ist der wahre der Magier am Werk, der seine Trickkiste perfekt beherrscht und immer auf der Suche ist, sie neu zu füllen. Und wenn das Publikum ihm am Ende glaubt, weiß er, dass hinter all der Magie vor allem harte Arbeit steckt.

1 Kommentar

  1. Sehr wahr! Mir kräuseln sich oft die Zehennägel, wenn ich in Selfpublisher e-Books hineinlese. Kaum haben sie das Werk in die Tasten geklimpert und gleich mit großer Geste ins Netz gepustet, sind die Autoren enttäuscht, wenn sie nicht den Verlagsvertrag hinterher geworfen bekommen. Schreiben, liegen lassen, überarbeiten, Kritik erbitten, Selbstkritik üben, immer wieder daran feilen, so geht Kurzgeschichte.

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