Wenn Sie ein Buch öffnen und es dem Schriftsteller gelungen ist, es zu einem organischen Ganzen zu machen, sprich, der Geschichte – egal ob lang oder kurz – eine Struktur zu geben, bei der alles zusammenpasst und an richtiger Stelle sitzt, sodass sie sich natürlich vor Ihren Augen und allen weiteren Sinnen ausgebreitet hat, dann stimmt der Plot. Ein Begriff, vor dem viele zusammenzucken, andere absolut der Meinung sind, dass sie ihn „beherrschen“, und die meisten, wenn sie ehrlich sind, nichts Konkretes darunter verstehen können, egal, wie lange sie sich damit beschäftigen.

Ich rede lieber von der Struktur, die zwar nicht 1:1 zu übertragen ist, aber sich dennoch in abgewandelter Form immer wieder in gelungenen Geschichten entdecken lässt. Eine Art Rezept, die unsere Urahnen von Generation zu Generation mündlich weitergegeben haben, die ein jeder um seine eigene Geheimzutat erweitert hat, und doch bleibt es im Grundsatz das, was vor vielen Jahrhunderten schon gemundet hat. Aber in einem Kochbuch werden Sie solch ein Rezept nicht finden. Es gibt auch keine Fertigbackmischung dazu. Nein, Sie müssen in die Lehre gehen, bei den Meistern lernen, ihnen über die Schultern schauen, alles genau beobachten. Und dann starten Sie Ihre ersten Versuche, werden immer besser, gehen Risiken ein, schaffen schließlich einen Kuchen, der unverkennbar aus Ihren Händen stammt.

Es ist jedes Mal ein neues Abenteuer, auf das wir unseren Protagonisten schicken und das auch wir selbst erleben müssen, oftmals gleichzeitig mit ihm, und nur selten sind wir ihm ein Stückchen voraus, vielleicht deshalb, weil das, was wir dann erleben, so heftig ist, dass es uns selbst erschrickt. Und wir uns ganz berechtigt scheuen, unser „Baby“ ins Verderben zu schicken. Wenn eine Geschichte so entsteht, dass der Schriftsteller selbst am Staunen ist, sich selbst fürchtet, selbst hofft, und am Ende selbst die Transformation erlebt oder, wie bei Hamlet, sich noch immer weigert, diese zu erleben und stur bei seiner Routine bleibt, die ja schuld an seiner Misere ist, erst dann wird es uns gelingen, unvergessene Geschichten zu schreiben. Deswegen sollte jede Plothilfe, jeder Plan, jedes „intellektuelle“ Strukturieren erst anschließend an das Schreiben des Erstentwurfs geschehen, damit Sie instinktiv verfahren. Sich ins Abenteuer stürzen, mit allen Sinnen. Es liegt an Ihnen zu entscheiden, ob Sie eine Pauschalreise buchen oder ein One-Way-Ticket in ein unbekanntes Land. Mit ersterem können Sie sogar recht erfolgreich sein, siehe Stieg Larsson oder Henning Mankell. Zu einer unvergesslichen Geschichte, die man noch nach Jahrzehnten immer wieder lesen will, an allen Plätzen dieser Erde, reicht solch ein Verfahren jedoch nicht. Egal, an welche berühmte Geschichte Sie jetzt denken, der Verfasser hat garantiert keine Reiserücktrittsversicherung gebucht.

Schreiben Sie Ihre Geschichte. Schreiben Sie sich die Seele aus dem Leib oder wie Roberto Bolaño und andere unsterbliche Schriftsteller und Dichter raten, aus Ihren Eingeweiden. Lassen Sie alles raus, was Ihnen einfällt. Unterdrücken Sie nichts, egal, wie wenig es damit zu tun haben scheint oder wie dumm es sich anfühlt. Später können Sie es immer noch entfernen. Je umfangreicher, je verrückter der Erstentwurf, umso tiefer und komplexer wird Ihre Geschichte am Ende. Haben Sie Vertrauen, zuallererst in sich selbst: Sie werden einen Grund haben, warum Sie genau diesen Satz aufschreiben mussten. Lassen Sie sich von keinem äußeren Einfluss leiten, fragen Sie sich nicht, ob das, was Sie schreiben, der Mutter oder der Freundin gefallen, dem Ehemann oder den Kindern missfallen könnte. Nehmen Sie sich vor allem nicht vor, einen Bestseller zu schreiben. Schreiben Sie, was Sie – und nur Sie – zu schreiben haben.

Dann, erst dann, wenn alles raus ist, wenn die Geschichte auf 10 oder auf 1000 Seiten vor Ihnen liegt, ein heilloses Durcheinander zwar, und voller unzusammenhängenden und überflüssigen Dingen, dann gehen Sie nach einer angemessenen Pause wieder ran und suchen nach dem Plot. Und fangen an zu sortieren. Damit Sie am Ende eine Struktur finden, die genau auf diese Geschichte passt. Eine einmalige Struktur für Ihre einmalige Geschichte, die mit Ihrer einmaligen Stimme erzählt wird.

Dabei hilft es immer, sich die Strukturen von Geschichten anzuschauen, bei denen genau das herausgekommen ist. Allein die Frage, die sich am Anfang stellt, ist das Ende des roten Fadens, den Sie dann nur noch abwickeln müssen. Schauen wir uns ein paar Beispiele an:

  • Jane Austens Stolz und Vorurteil: Wird die Protagonistin einen Mann finden (denn das musste ein heranwachsendes Mädchen damals, wenn sie nicht im Armenhaus landen wollte), der sie liebt und sie nicht ihrer Autonomie beraubt?
  • Kingsley Amis’ Glück für Jim: Wird der Protagonist erkennen, dass es ihn nicht glücklich macht, sich immer nur durchs Leben zu schummeln und mehr schlecht als recht den Schlägen auszuweichen?
  • Mercè Rodoredas Auf der Plaça del Diamant: Wird die Protagonistin aus ihrer Passivität herauskommen und endlich selbst über ihr Leben bestimmen?
  • Harper Lees Wer die Nachtigall stört: Kann sich die Protagonistin damit abfinden, in einer unperfekten Welt erwachsen zu werden, und das auch noch als Mädchen?
  • Adam Hasletts „Der Ursprung der Verzweiflung“: Sieht der Protagonist endlich ein, dass er den Trauerprozess um seine Eltern nicht umgehen kann?
  • Jhumpa Lahiris „Eine vorübergehende Sache“: Erkennt der Protagonist, dass er die Verantwortung für sich selbst übernehmen muss, bevor er in der Lage ist, ein guter Ehemann und Vater zu werden?

Diese Fragen sind keine, die man sich gern stellt und diese Protagonisten haben es lange geschafft, ihnen aus dem Weg zu gehen. Aber unsere Kollegen haben sie dazu gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, mit allen Mitteln, und am Ende haben die Protagonisten eingesehen, dass ihre Probleme genau daher rühren. Aber nicht alle sind bereit, sich zu ändern; hier ein Beispiel für einen Protagonisten, der sich seiner Transformation bis zum Schluss erfolgreich verweigert – und damit auch dem Leser das Herz bricht:

  • Richard Fords Der Sportreporter: Wird der Protagonist einsehen, dass es ihn unglücklich macht, alle Menschen auf Abstand zu halten?

Graben Sie, NACHDEM Sie den Erstentwurf beendet haben, nach dieser Frage und Sie haben gleichzeitig die passende Struktur für das gefunden, was mein Lehrer Alexi Zentner als „a beautiful mess“ bezeichnet hat. Jetzt können Sie sortieren. In Schubladen legen mit Aufschriften wie „vielleicht“, „vielleicht an anderer Stelle“, „Wiederholungen“, „gut“, „gut, aber an anderer Stelle“, „definitiv andere Geschichte“. Aber werfen Sie nichts weg, es kann sein, dass Sie beim 27. Entwurf wieder darauf zurückkommen. Vertrauen Sie darauf, dass es einen Grund für Sie gegeben hat, es zu Papier zu bringen. Auch wenn etwas nicht bis zur Endfassung bestehen bleibt, es war wichtig, weil es Ihnen dabei geholfen hat, Ihre Geschichte dahin zu führen, wo sie jetzt ist.

Sortieren Sie, schneiden Sie, tauschen Sie. Behalten Sie aber immer Ihre Anfangsfrage im Kopf, denn diese wird Ihnen Orientierung geben. Lassen Sie Ihren Protagonisten in den Dschungel gehen, führen Sie ihn immer tiefer, schicken Sie ihm immer mehr Gefahren entgegen, die genau auf die Anfangsfrage zielen. Und dann lassen Sie ihn mit  letzter Kraft das Ende des Dschungels erreichen und in der Ferne ein Dorf erkennen, eines, das ihm einen Platz am Lagerfeuer anbieten wird, etwas zu essen und zu trinken, und einen sicheren Platz zum Schlafen.  Jetzt beantworten Sie Ihre Frage mit ja, nein  oder vielleicht. Keine andere Frage. Nur diese interessiert Ihre Leser. Und wie. Deswegen hat er Ihr Buch gelesen, von Anfang bis Ende. Da hat er sich redlich verdient, die Frage, die ihn bei jeder Seite begleitet hat, endlich beantwortet zu bekommen.

Wenn Sie einigermaßen Englisch können, schauen Sie sich das wunderbare Tutorial  Craft a Story that Readers Can’t Put Down von James Scott Bell an.  Es wird Ihnen dabei helfen, aus Ihrem so entstandenen Erstentwurf  ein unvergessliches Buch zu machen.